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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
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„1984“ und eine Inszenierung

Erschreckende Gegenwart


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Bild: Uli
 (© Eckdose)

George Orwell war ein genialer Geist. In seinem Roman „1984“ stellte er die Gegenwart seiner Gesellschaft des Jahres 1948 dar und betonte den Schrecken mittels Verfremdung. Indem die Handlung in der Zukunft spielte, wurden den Lesern einerseits eine beruhigende Distanz ermöglicht, andererseits die Mahnung mitgegeben, achtsam gegenüber den Entwicklungen zu sein.

Gegenüber anderen Dystopien der gleichen Zeit liegt der Schwerpunkt bei „1984“ in der totalitären Überwachung – sie kennt keine Grenzen. In Jewgeni Samjatins „Wir“ geht es um die Gleichschaltung der Menschen und in Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ dreht sich die Handlung um die Unterwerfung des Menschlichen unter die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Beide Bücher und Autoren kannte Orwell. Sein anderer Bestseller, „Farm der Tiere“, hatte bereits die Schweinerei einer willkürlichen Parteidiktatur behandelt.

Das Neue in „1984“ ist also nicht die Ungerechtigkeit, die Gleichschaltung oder die Indoktrination, sondern die Unentrinnbarkeit dessen, was anders als mit Totalitarismus nicht beschrieben werden kann. Die Figuren sind gänzlich überwacht, nicht einmal die Gedanken sind frei. Auch nur äußere Anpassung, Lippenbekenntnisse, werden bestraft. Die Partei fordert Liebe ihr gegenüber, und straft, wenn diese Liebe gelogen ist. Die Frage nach dem Sinn erübrigt sich dabei. O’Brien, vermeintlicher Anführer der Aufständigen und in Wahrheit einer der Oberen der Partei, stellt das Konzept von „Macht als Zweck zur Macht“ dar. Mittel sind Propaganda, Überwachung und, sollte alles nicht helfen, Folter und Gehirnwäsche. Der Kommunist Orwell sah als Vorbild der machtgierigen Partei vor allem die Regierungen und politische Tendenzen seiner Zeit.

Heutige Leser können aber genauso ihre kapitalistisch geprägten Gesellschaften erkennen. Die Propaganda Ozeaniens berichtet von einer äußeren Bedrohung durch Eurasien und Ostasien, mit denen Krieg herrscht, und von einer inneren Bedrohung durch den Dissident Emmanuel Goldstein, der die Partei hasst.

Unsere äußere Bedrohung ist „Terrorismus“ (sei es roter Terror in den 1970er Jahren, sei es der Islamismus seit den späten 1990er Jahren), angesichts dessen die Bevölkerung die Überwachung des öffentlichen und privaten Raumes zulässt. Auch innere Bedrohungen haben wir: Vereinzelung, Neid, Bedeutungslosigkeit. Geschickt manipuliert unsere Propaganda, die Werbeindustrie, wenn sie vorgaukelt, dass neue „intelligente“ technische Geräte und permanente Erreichbarkeit das Leben vereinfachen und Kontakte verbessern würden. Dass die Kanäle, auf die wir zurückgreifen, auch genutzt werden, um auf uns zurückzugreifen, ist eigentlich auch bereits vor Edward Snowdens Enthüllungen bekannt gewesen. Spätestens mit der flächendeckenden Verbreitung mobiler Telefone seit etwa 2000 ist der Große Bruder die Realität, in der wir leben. Unser „Neusprech“ steht nicht in Wörterbüchern. Der gedankenlose Medienkonsum macht uns zu den leicht handzuhabenden Proles, der gleichgeschalteten Unterschicht aus „1984“.

Umso erschreckender ist es, wenn eine Bearbeitung des Roman-Stoffes sich selbst unbemerkt zum Teil der „Parteipropaganda“ macht. In Stuttgart lässt sich zur Zeit eine solche missbrauchende Inszenierung im Alten Schauspielhaus besuchen. Bereits die verwendete Adaption als Theaterstück verkürzt die Handlung auf wenige zusammenhanglose Standbilder mit vielen Sex- und Nacktszenen. Den Großteil der Darstellung füllt die Folter, die in allen Details ausgeführt und dem Publikum aufgenötigt wird. Um ansatzweise an die Romanvorlage zu erinnern, wurde das Betonoptik-Bühnenbild von Videoprojektionen flankiert. Deren Asynchronität machte jedoch eher technische Rückständigkeit als eine allgegenwärtige Überwachung sichtbar. Insofern wurde „1984“ nicht als Dystopie eines Überwachungsstaats aufgeführt, sondern als unfreiwillige, schwer erträgliche Karikatur des Publikums und seiner Gesellschaft.

Statt die Parallelen zwischen Fiktion und gegenwärtiger Wirklichkeit zu zeigen, wurde mit allen Mitteln der Technik das Publikum gefoltert, etwa, indem Scheinwerfer in voller Blendung auf die Zuschauer gerichtet wurden. Flackerndes Licht drang selbst durch geschlossene Augenlider, übersteuerte Tonkanäle und Folterszenen – die eher im Kino mit Altersbeschränkung denn im Theater ihren Platz haben – versuchten mit Gewalt, eine Stimmung des Mitgenommenseins zu erreichen.

Wohlwollend kann man das als Kunst verstehen, etwa als Versuch, die Stimmung des Protagonisten zu transportieren. Doch wäre es effektiver gewesen, sich auf ein Medium zu beschränken. Hitchcocks „Psycho“ deutet den Mord nur an und ist in Schwarz-Weiß. Die Stimmung entsteht im Gefühl der Zuschauer. Genauso in den „Ring“-Thrillern in ihrer amerikanischen Fassung: Jeder Grusel-Effekt fehlt, wenn man die Tonspur weglässt. Weniger wäre also auch im Theater mehr gewesen. Die Stimmung kann nicht der Zweck gewesen sein.

Der farbverschmierte splitterfasernackte Körper des Hauptdarstellers (wo ist die Grenze der Prostitution?) schließlich wurde auf Großleinwänden nicht nur andeutungsweise, sondern in allen Details misshandelt. Gemischt mit Filmszenen, die an Guantanamo- und Abu-Ghuraib-Bilder erinnern sollten, wurde in einer überlangen zweiten Halbzeit deutlich, dass hier mitnichten Orwells aufschreckende Dystopie inszeniert war, sondern einzig und allein der primitive Voyeurismus eines gleichgeschalteten Publikums bedient wurde.

Nicht die Allmacht und Totalität der Partei wurden hier in ihrer Unentrinnbarkeit präsentiert, nicht die totale Kontrolle über die Menschen mittels Medien, versteckter und offensichtlicher Überwachung oder gar die überzeichnete Bedrohung durch Objekte des Hasses. Nein, die Inszenierung führte das Publikum vor, als Haufen, der sich im wörtlichen Sinne blenden ließ, sich willig der Folter unterwarf und sich dabei auch noch überlegen fühlte. Wie die gefolterte Hauptfigur Winston Smith am Ende der Geschichte der Partei gegenüber dankbar ist, applaudierten die Zuschauer den Schauspielern und Technikern für ihre eigene Folter.

1984 ist Gegenwart. Leider deutlicher, als es Orwell beschreiben konnte.

Uli in Kunstkultur am 22.02.2015 um 13.22 Uhr

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