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Der Tod der Erinnerung


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Bild: sophie
 (© Eckdose)

Manche Großmutter kann noch davon erzählen, wie es damals war. Damals, als der Bombenalarm losging, als man sich irgendwann – als der Alarm immer öfter zu hören war – fragte, ob man seinen Alltag deshalb überhaupt noch unterbrechen sollte. Krieg und Leid, Lärm und Hunger, das war längst Normalität geworden.

Mancher Großvater kann noch davon erzählen, wie es damals war. Damals, als Solidarität unter Soldaten groß geschrieben wurde und die geteilte Angst und das gemeinsame Entsetzen verband – über jeden sozialen Unterschied hinweg. An der Front waren plötzlich alle gleich. Damals, als man gegen einen Feind kämpfte, dem man nicht einmal mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Damals, als man irgendwann nicht mehr für den Führer kämpfte, sondern um das eigene Überleben. Und um die zurückgelassene Familie zu schützen. Als der Kamerad an der Seite fiel. Als man selbst halb verschüttet unter Trümmern lag.

Manche erzählen ihre Erinnerungen. Die meisten schweigen und schwiegen. Und doch verändert die Erinnerung, ob ausgesprochen oder im Gedächtnis, eine Gesellschaft. Wer weiß, was Hunger ist, lebt anders. Wer weiß, was echte existenzielle Angst ist, sieht Leben anders. Wer miterlebt hat, wie Nachbar für Nachbar nicht mehr nach Hause kehrt, der eigene Sohn als verschollen gilt oder selbst als Veteran zurückgekehrt ist, obwohl man schon mit seinem Ende gerechnet hatte, der weiß um die Brüchigkeit des Lebens.

Über all das kann er schweigen, er kann es zu vergessen versuchen oder die Erinnerung schön reden, oder den nachfolgenden Generationen, die nichts um dieses Erleben wissen, ihre Leichtfertigkeit vorwerfen. Aber er lebt diese Erinnerung. Und dieses Leben prägt sein Umfeld, Kinder und Enkel. Die Nachzeit.

Als der 2. Weltkrieg endete, bestand die Erinnerung an ihn weiter, weiter bis heute. Aber die Erinnerung wird immer schwächer, sie verblasst mit jedem, der seine Erinnerung mit in den eigenen Tod nimmt. Immer wieder denken wir zurück. Immer wieder jähren sich Ereignisse. Ob 70 Jahre Frieden oder Gemeinfreiwerdung von „Mein Kampf“. Wir denken zurück, aber immer weniger Menschen können sich erinnern. Irgendwann in nächster Zeit haben wir ein ganz anderes Jubiläum: den Tod der Erinnerung. Der Letzte, der eingezogen wurde, um vermeintlich für Führer und Vaterland sein Leben aufs Spiel zu setzen, der wird gestorben sein. Und seine Erinnerung mit ihm.

Wer erinnert uns dann noch daran, welchen Wert es hat, mit einer vollzähligen Familie in Frieden leben zu können? Wer erinnert uns an das Geschenk des Lebens und des Friedens?

Wer lebt uns dann noch ein Leben, das um seine Brüchigkeit weiß?

Vielleicht brauchen wir all die vielen Menschen, die in dieser Zeit in unsere Normalität einfallen. Nicht als Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor, nicht als Renteneinzahler. Vielleicht brauchen wir sie als Menschen, die ihre Erinnerungen mit uns teilen und uns zeigen, wie wenig selbstverständlich und wertvoll das Leben ist.

sophie in Geschichte am 14.01.2016 um 11.55 Uhr

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