Zur Startseite Eck.Dose

Der Blog des Goldseelchen-Verlags
für Tagfalter und Nachtdenker

Der Blog des Goldseelchen-Verlags

Unmoral genießt keinen Bestandschutz

Lausbua als Brauchtum


In München zu arbeiten, bringt manche Besonderheit mit. Eine davon ist die alljährliche Benachrichtigung der Arbeitgeberin: Zur „Brauchtumspflege“ darf innerhalb der Arbeitszeit mit Kolleginnen und Kollegen auf die Wiesn gegangen werden. Es müssen mindestens fünf Kolleginnen und Kollegen sein. Das ist die festgelegte Mindestanzahl der Geselligkeit, um „Brauchtum“ ordnungsgemäß pflegen zu können. So geht es aus dem offiziellen Schreiben hervor.

Brauchtum und Sexismus

Eine meiner Freundinnen war vor ein paar Jahren zur Brauchtumspflege mit ihrem Münchner Team einer anderen seriösen Arbeitgeberin auf der Wiesn. Das Brauchtum gipfelte darin, dass ihr Vorgesetzter im Bierzelt eine Bemerkung über das Dekolleté meiner Freundin machte, welches er daraufhin ungefragt und zentriert fotografierte.

Brauchtumspflege muss keine Entschuldigung für Sexismus sein, es gibt jedoch Indizien, die einen Zusammenhang nahelegen. Da ist zum Beispiel der Stuttgarter Oberbürgermeister Nopper. Der empfiehlt nicht nur mit steter Regelmäßigkeit, das Gendern sein zu lassen – eine „hysterische correctness“, wie er meint. Er zeigte sich gleichzeitig in der Vergangenheit auch aufgeschlossen gegenüber sexistischen Darstellungen auf dem Cannstatter Frühlingsfest. Vergewaltigungsszenen an Volksfestbuden? Für den CDU-Politiker glich ein Verbot solcher Motive ganz unangemessener Zensur. Die „Tugend- und Sittenwächter“ brauchten doch nicht zu übertreiben. Solche Darstellungen gebe es seit Jahrzehnten und zuvor habe sich auch niemand daran gestört – so wird er weiter zitiert.

Er benimmt sich daneben – wie niedlich

Ein anderes Beispiel begegnete mir diese Woche: Auf einem Babystrampler in Oktoberfestoptik prangt auf der Brust in einem hellblauen Schnörkelherz das Wort „Lausbua“. „Ist doch niedlich“, mag man meinen. Genau das ist das Problem. Ein „Lausbua“ wird als „niedlich“ empfunden. Der Begriff meint einen kleinen Jungen, der rechtlich oder sozial eigentlich unerwünschtes Verhalten an den Tag legt, aber – und das ist die Pointe – für dieses rechtlich oder sozial eigentlich unerwünschte Verhalten nicht Sanktion, sondern bestätigende Anerkennung findet.

Was das mit Geschlechterungerechtigkeit zu tun hat, zeigt die Gegenprobe: Für Mädchen, die regelwidriges Verhalten an den Tag legen, kenne ich kein positives Alltagswort, geschweige denn, dass es entsprechende Oktoberfeststrampler gebe. Gebräuchlich ist die männliche Grenzüberschreitung, nicht die weibliche. Gebräuchlich ist es, diese männliche Grenzüberschreitung augenzwinkernd abzutun und im Eigentlichen doch zu bestätigen.

Unmoral genießt keinen Bestandsschutz

Die CDU-Logik nach Nopper, dessen Äußerungen hier nur exemplarisch für eine Art zu Argumentieren stehen, lässt sich so analysieren: Brauch verweist auf eine Sitte, die schon sehr viel länger besteht als unsere heutigen Moralansichten. Bräuche zu pflegen, bedeutet damit, diesen überholten Sitten in Art des Bestandsschutzes einen Raum zu bieten.

Ich muss an eine winzige Villa in Stuttgart denken. Sie wurde 1924 errichtet. Sie steht im heutigen Gartenbauland. Gartenbauland bedeutet, dass hier keine neuen Wohngebäude errichtet werden dürfen. Die kleine Villa hat Bestandsschutz. Man kann sie zwar abreißen, aber man darf nicht an selber Stelle ein neues Wohnhaus errichten. Man darf sie auch nicht erweitern, weshalb sie schon allein mit ihren bescheidenen zweieinhalb Zimmern und der Ölheizung ziemlich aus der Zeit gefallen scheint.

Was hat die winzige Villa mit Brauchtum und Moral zu tun? Aus ethischer Perspektive ist zu fragen, ob unmoralisches Verhalten gleich der Villa einen Bestandsschutz genießt. Nur wenn das bejaht wird, ist die Argumentation nach Nopper und anderen schlüssig. Das aber würde bedeuten: Wir als Gesellschaft haben eine Rechtsgeschichte, in die über die letzten Jahrzehnte Errungenschaften aus Zivilisation und Gleichberechtigung eingegangen sind. Und gleichzeitig kultivieren wir rechts- und moralfreie Räume unter dem Label des „Brauchtums“, in denen wir Regelbrüche honorieren statt ahnden.

Brauchtum pflegen und Moral stärken

Gegen Geselligkeit ist nichts einzuwenden, auch nichts gegen Trachten und Umzüge, Liedgut und Nostalgie. Es gibt allerdings zum Beispiel klare ethische und auch rechtliche Positionen dazu, welche Lieder ausgedient haben und nicht mehr gesungen werden sollen. Wir messen mit dem Maß von heute und dem Wissen, das uns die Geschichte gelehrt hat. So unterscheiden wir als Gesellschaft, welche Traditionen und Brauchtümer wir pflegen; und stärken auf diese Weise auch die aktuelle Rechtsauffassung.

Als Ethikerin vertrete ich die Position: Rechtswidrigkeit ist kein schützenswertes Kulturgut. Unmoral genießt keinen Bestandsschutz. Die Grundrechte unserer Verfassung dagegen schon. Sie sind ebenfalls Jahrzehnte alt. Allen voran halten sie die Unantastbarkeit der „Würde“ aller fest. Dazu kommen, auch in Artikel 1, „Gemeinschaft“, „Frieden“ und „Gerechtigkeit“: großartige Begriffe, die in Brauchtum gelebt werden können. Heute dringender denn je.

sophie in Gesellschaft am 03.10.2025 um 12.29 Uhr

Werkzeuge:  |  

Auch ansehen:

Kommentar verfassen

 

Die Felder mit * sind verpflichtend.

Redaktionelle Prüfung: Wir bitten um Dein Verständnis, dass wir die Kommentare vor Veröffentlichung prüfen.

Datenschutz-Hinweis: Alle Daten, die in dieses Formular eingetragen werden, können auf dieser Seite als Einträge angezeigt werden. Zusätzlich werden IP-Adresse und Zeitpunkt der Übermittlung in einer Datenbank gespeichert, um im Falle strafrechtlich relevanter Eintragungen die Herkunft nachweisen zu können.