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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Über epistemische Bescheidenheit

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Nehmen wir an, aus Tatsachen werden Positionen – und genau die stellen in Textform ein Trainingsmaterial für Sprachmodelle dar. Die Wirklichkeit des Sprachmodells ist selbstredend sprachbasiert: Eine Wirklichkeit jenseits der Sprache ist nicht denkbar und nicht darstellbar. Was sich nicht sagen lässt, darüber müssen Modelle schweigen. Eine nichtsprachliche Welt ist damit erst keine zugängliche Welt, dann keine präsentierte Welt und schließlich für unsere Wahrnehmung, die wir mit Modellen interagieren, gar keine Welt.
Auch hier entstehen Ränder der Bedeutungslosigkeit: Die Meinung des einen Menschen, der behauptet, die Erde sei rund, verschwindet hinter der Mehrheitsmeinung, sie sei eine Scheibe. Heute wissen wir, dass die Erde rund ist, dass sie um die Sonne kreist usw. Heute arbeiten wir allerdings mit Modellen, die uns Häufigkeit als Wahrheit präsentieren. Auch wenn wir von Wahrscheinlichkeit sprechen. Statistisch arbeitende Maschinen greifen auf menschlich vorgegebene Logiken zurück und reproduzieren häufige Muster. Einmaliges und Kontingentes wird ausgeblendet. Die statistische Wahrscheinlichkeit wird so zur unsichtbaren Norm, die die Vielfalt der Wirklichkeit beschneidet. Allein: Die Erde bleibt rund, auch wenn dies in bestimmten Kontexten als Randmeinung und unwahrscheinlich modelliert wird und uns deshalb nie als adäquate Ansicht präsentiert wird.
Mehrheitsmeinung ist kein objektives Urteil, das Wirklichkeit widerspiegelt. Sie mag sozial stabil und methodisch etabliert sein. Sie mag Verlässlichkeit und Orientierung vermitteln. Aber sie ist nicht per se ontologisch privilegiert, nicht automatisch Wirklichkeit und Wahrheit näher. Sie ist auch nicht erkenntnistheoretisch objektiv. Wird Quantität von einem Modell bevorzugt (statistische Häufung statt statistischer Ausreißer) und deshalb zuerst genannt, wird sie stillschweigend als normativ gesetzt. Eine scheinbare methodische Neutralität erzeugt eine Hierarchie der Deutungen. Eine ohnehin bestehende Tendenz wird als Dynamik verstärkt. Allerdings: Dass etwas selten ist, macht es weniger wahrscheinlich, aber nicht weniger wirklich. Dass etwas etabliert ist, macht es nicht notwendigerweise wahr. Modelle können vieles abbilden, erleichtern, handhabbar machen. Modelle haben aber nur begrenzten Zugang auf das, was ist.
Das fordert epistemische Bescheidenheit. In epistemischer Bescheidenheit darf Wirklichkeit mehr sein als das methodisch Zugängliche und statistisch Verwertbare. Das Kontingente, das Einmalige, das was sich statistisch nicht fügen will, darf (uns verborgen) sein. Einerseits wahrt diese Bescheidenheit das vormoderne Wissen, in dem Bedeutungsräume als solche ernst genommen werden konnten, auch wenn sie nicht vollständig erklärbar oder modellierbar waren und sind. Andererseits verwahrt sie sich vor Beliebigkeit: Dass nicht alles zugänglich ist, heißt nicht, dass Wahrheit und Wirklichkeit außer Kraft gesetzt würden. Lüge, Irrtum, Bullshit – sie bestehen weiterhin. Weiterhin gibt es einen Unterschied zwischen Realität, Falschheit und Interpretation. Bescheidenheit meint nicht Relativismus, sondern ein wissendes Anerkennen um Grenzen unserer Zugänge. Denn wir wissen nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein.
Das Unverfügbare respektieren und Wirklichkeit ernst nehmen, die die Grenzen der Darstellbarkeit überschreitet – das lässt mich diesen Text an Weihnachten platzieren. Weihnachten kann uns daran erinnern, dass es dieses Mehr gibt: Diesen Überhang, den wir nicht begreifen oder statistisch darstellen können. Unsere Modelle und Methoden haben Grenzen, denen wir mit einer Demut gegenüber der Wirklichkeit begegnen können, einer Wirklichkeit, die größer ist als unser Wissen und als unsere Werkzeuge. Epistemische Bescheidenheit bedeutet auch: offen zu sein für das, was größer ist als wir selbst.
sophie in Philosophie am 23.12.2025 um 18.35 Uhr
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