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Der Blog des Goldseelchen-Verlags
Über epistemische Bescheidenheit

„Die Welt zerfällt in Tatsachen“, schrieb der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten Tractatus Logico-Philosophicus vor gut einhundert Jahren. Tatsachen wiederum gründeten im „Bestehen von Sachverhalten“. Der Philosoph ging dem nach, wie wir denken können. Er gliederte alles, was wir wahrnehmen – ja sogar, wie wir wahrnehmen – in ein logisches Gesamtkonzept ein. Dieses Gesamtkonzept, so war er überzeugt, besitzt Objektivität. Was Wirklichkeit ist, ist nicht nur nicht verhandelbar, sondern logisch zugänglich. Sprache bildet Wirklichkeit ab. In den 1970er Jahren hielt der Philosoph Thomas Nagel implizit dagegen. Er brachte es so auf den Punkt: Wir wissen nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wir wissen letztlich nicht, ob und in welchem Umfang es eine objektive Beschreibung von Welt und Wirklichkeit geben kann. Für Nagel gibt es ein Mehr an Erleben und Wirklichkeit, das wir weder objektiv erfassen noch mit wissenschaftlicher Methode beschreiben und abbilden können.
Warum aber scheint es so wichtig für uns, in Tatsachen, Sachverhalten und Dingen zu denken? Dahinter sehe ich den Wunsch, Wirklichkeit erklärbar zu machen. Und ich denke, dieses Ansinnen entspringt weniger einer objektiven Notwendigkeit, als einem anthropologischen Motiv. Erklären bedeutet Ordnen, Kontrollieren, Vorhersagen. Erklären und Erklärbarmachen ist ein Gegenmittel gegen Ohnmacht. Erklärenkönnen vermittelt Sicherheit. Kausalketten auch in die Zukunft fortschreiben zu können, suggeriert Kontrolle. In der Wissenschaft kulminiert das Erklärbarmachen. An sie kann sich deshalb die Erwartung einer sicheren Zukunft knüpfen.
Zu einem Fehlschluss kommt es, wenn aus der Stärke der Wissenschaft ein normativer Anspruch wird: Alles, was wirklich ist, muss erklärbar sein. Oder anders: Nur das Erklärbare ist das Wirkliche. Dieser normative Anspruch ist ideengeschichtlich auffallend jung. Erst in der Moderne kam man in hiesigem Kulturkreis – in anderen Kulturkreisen mag das noch immer anders sein – von der Idee ab, dass es Bereiche gibt, die dem Wissen zugänglich sind und solche, die es nicht sind. Nicht nur, dass das nicht wissenschaftlich Erfassbare damit ein Wirklichkeitsrecht verliert. Es entfaltet sich damit auch die Tendenz, das Unzugängliche oder auch Unwiederholbare mit defizitärem Wert zu bemessen.
Diese Tendenz gelangt mit statistischen Modellen und algorithmischen Möglichkeiten der Gegenwart zu einem Höhepunkt, denn: Einmalige Erfahrungen, Träume, Intuitionen – all das wird vom statistischen Modell bereinigt. Der Schluss aufs Unreale, Bedeutungslose oder Illusorische ist schnell gesetzt, aber wissenschaftlich nicht beweisbar. Faktisch gehen solche „normabweichenden“ Elemente dennoch als bedeutungslos ins Modell ein.
sophie in Philosophie am 23.12.2025 um 18.35 Uhr
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